Mehr als Schwarz-Weiß: Wie du Beziehungen neu denken kannst
- Sandra Sieroux
- 14. Jan.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Feb.

Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einer meiner Mentee, das mich sehr berührte. Während wir über Beziehungen sprachen, erkannte sie plötzlich, dass Beziehungen lebendig und vielschichtig gestaltbar sind – wie eine Tür, die einen Raum voller neuer Möglichkeiten eröffnet.
Ich stellte ihr meine Beziehungslandkarte vor, die mit Kreisen und Zonen arbeitet, die unterschiedliche Nähe, Distanz und Investition in Beziehungen darstellen – sei es in Form von Zeit, Aufmerksamkeit oder emotionaler Energie. Es ist kein starres Schema, sondern eine flexible Struktur, die mir hilft, zu erkennen, wie viel Abstand zu einer Person sich für mich stimmig anfühlt und wo ich Grenzen setzen möchte.
Für sie war es das erste Mal, dass sie die Möglichkeit sah, Beziehungen nicht nur als „alles oder nichts“ zu verstehen, sondern als etwas, das sich flexibel und nach ihren Bedürfnissen gestalten lässt. Es war ein befreiender Gedanke: Sie musste nicht mehr entscheiden, ob eine Beziehung „funktioniert“ oder nicht, sondern konnte einzelne Facetten bewusster wahrnehmen.
Neue Begriffe, neue Gestaltungsmöglichkeiten
In unserem Gespräch wurde mir wieder klar, wie stark unsere Worte unsere Wahrnehmung formen. Ohne Begriffe für die Vielfalt von Beziehungen bleibt oft nur „bestehend“ oder „abgebrochen“. Doch was passiert, wenn wir mehr Unterscheidungen finden? Worte sind Werkzeuge, die Unterschiede offenbaren und uns so neue Gestaltungsideen eröffnen. Begriffe wie „innere Grenzen setzen“, „emotionale Investitionen“ oder „Nähe und Distanz bewusst steuern“ schaffen Raum, Beziehungen differenzierter wahrzunehmen und lebendig zu gestalten – in Übereinstimmung mit unseren Bedürfnissen.
Vielleicht eröffnet mein Modell auch dir neue Möglichkeiten, über deine Beziehungen nachzudenken. Welche Unterschiede fallen dir auf, wenn du genauer hinsiehst? Welche Beziehungen fühlen sich für dich stimmig an? Wo könntest du bewusster Nähe zulassen, um sie zu stärken? Und wo würde dir ein innerer Abstand helfen, mehr Leichtigkeit zu finden? Es geht nicht darum, alles sofort zu verändern, sondern darum, deine Beziehungen mit neuen Augen zu betrachten – in deinem Tempo und auf deine Weise.
Ein Überblick über mein Beziehungsmodell
Meine Beziehungslandkarte hat sich über 15 Jahre entwickelt. Es begann mit einem einfachen Konzept aus drei Kreisen: Ich selbst stand in der Mitte, und je weiter innen ein Kreis war, desto enger war die Beziehung, die in ihm lag. Damals habe ich die Kreise einfach nach Bauchgefühl befüllt.
Heute ist meine Beziehungslandkarte detaillierter. Die Zonen zeigen Nähe, Distanz und meine Investition – emotional, zeitlich und energetisch.
Die Zonen in meinem Modell
Meine Beziehungslandkarte umfasst sechs Zonen, die unterschiedliche Arten von Beziehungen darstellen. Jede Zone steht für eine andere Form von Beziehung. Die ersten drei Kreise umfassen „meine Menschen“. Sie alle haben auf ihre Weise einen Platz in meinem Herzen, und ich investiere mich in sie emotional.
1. Der heiliger Kreis
Der innerste Kreis ist meine heiliger Kreis. Hier finden nur sehr wenige Menschen Platz. Das sind die Menschen, denen ich absolutes Vertrauen schenke und mit denen ich durch dick und dünn gehe. Diese Beziehungen sind von höchster Priorität, und ich investiere in sie mit meiner ganzen emotionalen Energie. Sie geben mir ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit.

2. Der Freundeskreis
Dieser Kreis umfasst die Menschen, die mir sehr am Herzen liegen und die ein regelmäßiger Teil meines Lebens sind. Wir teilen unsere verletzlichen Seiten, schwierigen Momente und Freuden. Diese Freundschaften beruhen auf Vertrauen, Fürsorge und gegenseitigem Trost.
3. Lockeren Freundschaften
Im dritten Kreis befinden sich Menschen, die ich gern habe. Ich verbringe gerne Zeit mit ihnen und genieße es, gelegentlich mit ihnen zu sprechen. Dennoch käme es mir nicht in den Sinn, bei ihnen Trost zu suchen oder meine persönlichen Probleme mit ihnen zu teilen. Ich fühle mich ihnen verbunden, aber die emotionale Tiefe ist geringer.
4. Der Bekanntenkreis
Die Zone um meine engeren Kreise herum ist der Bekanntenkreis. Hier befinden sich Menschen, mit denen ich in Kontakt stehe, die aber keine tiefere emotionale Verbindung mit mir teilen. Oft verbindet uns ein gemeinsames Hobby, berufliche Überschneidungen oder spannende Gespräche. Diese Beziehungen bereichern mich durch Austausch, Inspiration oder gemeinsame Interessen. Ich investiere bewusst Zeit und Aufmerksamkeit, jedoch ohne emotionale Energie. Der Fokus liegt auf einem gegenseitigen Mehrwert, der sich aus den gemeinsamen Aktivitäten oder dem intellektuellen Austausch ergibt.
5. Die rote Box
Die rote Box ist ein bewusster Schutzraum. Hier sortiere ich Menschen ein, mit denen ich keinen oder nur minimalen Kontakt möchte – weil ich ihnen nicht vertraue oder mich in ihrer Gegenwart unsicher fühle. Diese Zone hilft mir, klare Grenzen zu setzen und mich vor weiteren negativen Erfahrungen zu bewahren.
6. Die Wolke
Die Wolke ist ein Sammelbecken für all jene Menschen, die in keine der anderen Zonen passen. Das sind Leute, mit denen ich kaum bis gar keinen Kontakt habe, aber mit denen man sich theoretisch alle Jubeljahre mal über den Weg läuft oder kleine Gefälligkeiten austauscht. Die Wolke ist auch der Platz, an den ich jemanden aus dem Bekanntenkreis sortiere, wenn ich spüre, dass es für mich nicht mehr stimmig ist, diese Beziehung aktiv zu pflegen – ohne dass es einen negativen Anlass dafür gibt.
Wie es sich anfühlt, jemanden „nach außen“ zu schieben

Eine der ersten Fragen, die meine Mentee an mich hatte, als ich ihr mein Modell vorstellte, war: „Wie fühlt es sich an, jemanden innerlich ‚weiter nach außen‘ zu schieben?“ Keine leichte Frage, denn Veränderungen in Beziehungen sind oft sehr emotionsgeladen.
Für meine Mentee war besonders wichtig zu hören, dass es in Ordnung ist, Beziehungen im Stillen neu zu sortieren. Du musst nicht jedes Mal ein großes Gespräch führen oder dem anderen erklären, dass er oder sie weniger Raum in deinem Leben einnimmt. Oft reicht es, dir diese Veränderung bewusst zu machen und innere Grenzen zu setzen. Das kann genauso wirksam sein wie eine explizite Ansprache – vor allem, wenn es darum geht, wie viel Herz und Energie du investierst.
Es gibt jedoch auch Beziehungen, in denen ein offenes Gespräch sinnvoll und notwendig sein kann – zum Beispiel, wenn die andere Person die Nähe sucht oder sich über Veränderungen wundert. Dabei war es für mich wichtig zu lernen, mit welchen Menschen ich mich sicher fühle, solche Gespräche zu führen, und mit welchen nicht. Solche Einblicke in deine Gefühle und Gedanken müssen verdient werden. Es braucht Vertrauen und gegenseitigen Respekt, um solche Gespräche fruchtbar und konstruktiv zu machen. Fehlt dieses Vertrauen, kannst du die Veränderung still für dich selbst klären und Grenzen ohne direkte Kommunikation setzen.
Manchmal fühlt sich das „Weiter nach außen schieben“ wie ein Verlust an, besonders bei Menschen, die dir einst sehr nahe waren. Aber oft ist es auch die Akzeptanz einer Realität, die schon längst eingetreten ist. Für mich bedeutet das, eine Situation bewusst anzuerkennen, in der das Geben und Nehmen aus der Balance geraten ist.
Vielleicht findest du dich auch in Beziehungen wieder, in denen du mehr gibst, als du zurückbekommst. Für mich ist das bewusste „Weiter nach außen schieben“ daher auch eine Erlaubnis, mein Geben anzupassen und zu reduzieren – so, dass eine Beziehung wieder in Balance kommen kann. Es ist kein Abschied, sondern eine Chance, die Beziehung auf eine Weise neu zu gestalten, die sich für beide Seiten stimmig anfühlt.
Wenn jemand in eine andere Zone rutscht, musst du dein Verhalten nicht zwingend ändern – aber es kann hilfreich sein, wenn es sich besser anfühlt. Manchmal reicht es, deine innere Haltung zu verändern. Du kannst aber auch bewusst weniger emotionale Energie investieren oder dich seltener melden. Solche Anpassungen helfen, dass die Beziehung ihrem neuen Platz in deinem Leben entspricht.
Was ich meiner Mentee mitgeben wollte – und was vielleicht auch dir eine neue Perspektive eröffnen kann – ist die Erlaubnis, bewusst über Beziehungen nachzudenken und Anpassungen vorzunehmen. Ja, es ist nicht nur erlaubt, sondern sogar hilfreich und weise, Beziehungen zu gestalten, anstatt sie einfach nur geschehen zu lassen.
Wie Menschen in meine Kreise kommen
Früher ließ ich Menschen oft zu schnell in meine Kreise, was durch meine Loyalität zur Herausforderung wurde – denn wer einmal drin war, blieb dort oft lange, auch wenn die Beziehung ungesund wurde. Das ist heute zwar noch immer herausfordernd, aber ich bin achtsamer geworden und lasse mir Zeit, bevor jemand nach innen rückt.
Durch die Arbeit mit meiner Beziehungslandkarte habe ich erkannt, wie wertvoll jede Zone ist, und schätze heute alle Beziehungen, die nicht in der roten Box landen. Es gibt keinen Grund zur Eile, Menschen nach innen zu holen. Jeder Schritt nach innen ist für mich ein Ausdruck von Vertrauen, das sich in der Beziehung entwickelt hat.
Menschen in meinen Kreisen sind konsequent respektvoll – mir und anderen gegenüber. Nur wer eine liebevolle und wertschätzende Beziehung mit mir pflegt, kommt in meinen Freundeskreis. Das macht meine Beziehungen heute stabiler und stimmiger.
Das Modell als Werkzeug der Bewusstheit
Mein Modell ist kein starres Konzept, sondern ein flexibles Werkzeug, das sich an die eigenen Bedürfnisse und Lebensumstände anpassen lässt. Über die Jahre habe ich erkannt, dass nicht alle Beziehungen gleich funktionieren müssen. Manche fühlen sich in einem äußeren Kreis stimmig an, während andere mehr Nähe und Herz brauchen.
Die Zonen helfen mir, bewusst wahrzunehmen, wo ich Energie investiere, wo ich Grenzen setzen möchte und wie sich Beziehungen anfühlen. Besonders wertvoll ist die Erkenntnis, dass es keine universelle Lösung gibt. Jede Beziehung ist einzigartig, und was für die eine passt, kann für die andere unpassend sein. Wichtig ist, diese Entscheidungen bewusst zu treffen – mit Klarheit darüber, was sich für dich stimmig anfühlt.
Praktische Tipps oder Reflexionsfragen
Möchtest du deine eigene Beziehungslandkarte erstellen? Beginne so:
Visualisiere deine Beziehungen: Zeichne Kreise auf ein Blatt Papier und schreibe die Namen von Menschen intuitiv in die Kreise. Überlege dann, ob die Positionen für dich stimmig sind.
Reflektiere deine Beziehungen:
Welche Beziehungen fühlen sich unausgewogen an?
Wo investierst du mehr, als du zurückbekommst?
Gibt es Beziehungen, in denen du eine innere Grenze setzen möchtest - vielleicht auch nur vorübergehend, um zu spüren, ob es sich dann besser anfühlt?
Wo gibt es unterschiedliche Wünsche?
Drängt jemand näher an dich heran, als dir angenehm ist?
Entzieht sich jemand, den du gern näher bei dir hättest?
Wie möchtest du mit diesen Spannungen umgehen?
Probiere kleine Schritte aus: Manchmal genügt es, deine innere Haltung zu verändern oder weniger Energie zu investieren. Beobachte, wie sich das auf die Beziehung auswirkt, bevor du größere Schritte unternimmst.
Lass dir Zeit: Beziehungen verändern sich, und dein Landkarte darf es auch. Es geht nicht darum, sofort Antworten zu finden, sondern um bewusste Reflexion und kleine, stimmige Schritte.
Einladung zur Reflexion

Dieses Modell ist vor allem ein Werkzeug, um bewusster mit deinen Beziehungen umzugehen. Es darf sich verändern, genauso wie du dich veränderst.
Vielleicht inspiriert es dich, deine eigene Beziehungslandkarte zu entwickeln. Was würde sich verändern, wenn du deine Beziehungen aktiv gestaltest?
Diese Beziehungslandkarte hat mein Leben bereichert, und vielleicht kann sie das auch für dich tun. Sie ist eine Einladung, Beziehungen bewusster zu gestalten und dabei Leichtigkeit, Freiheit und Klarheit zu gewinnen.




Kommentare